Winterthur, Dezember 2023 - Als Diplom-Ingenieur Daniel Kormann 2009 seine Karriere in der Medizintechnik startete, sah die Branche noch ganz anders aus. Während die Qualitätskontrolle für sichere und zuverlässige Produkte etabliert war, zögerten die Hersteller noch, dafür Methoden wie die Werkzeuginnendruckmessung einzusetzen. In den letzten zehn Jahren hat sich die produktionsbegleitende Messung dieses Parameters zum Standard entwickelt, da sie zuverlässige Informationen über die Prozess- und Produktqualität liefert. Auch die Digitalisierung und Automatisierung der Prozessüberwachung ist weit fortgeschritten. Daniel Kormann, Head of Business Development Plastics bei Kistler, beleuchtet den Stand der Prozessüberwachung und -regelung vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen wie KI und neuer Vorschriften.
Prozessdaten als Grundlage für Qualitätssicherung und Effizienssteigerung beim Spritzgießen in der Medizintechnik
Daniel, welche großen Veränderungen haben Sie in Ihrer Laufbahn in der Medizintechnikbranche erlebt?
Während meiner Zeit in der Medizintechnikbranche habe ich einige große Veränderungen miterlebt. Als ich 2010 frisch von der Hochschule kam, standen die Unternehmen der Werkzeuginnendruckmessung noch skeptisch gegenüber. Wer die Technologie integrierte, nutzte sie hauptsächlich für die einfache Prozessüberwachung und vernachlässigte die anspruchsvolleren Möglichkeiten. Als ich zu Kistler kam, war eines der wichtigsten Projekte die Entwicklung von ComoNeo, einem System, das eine deutliche Verbesserung gegenüber der Vorgängerlösung ComoInjection darstellte. Als Software, die speziell für den Spritzguss entwickelt wurde, bot ComoNeo eine viel bessere Handhabung und wurde schnell sehr erfolgreich auf dem Markt. Die Anwendung stieß auch im medizinischen Bereich auf großes Interesse. Um den Bedürfnissen der Medizintechnikunternehmen gerecht zu werden, haben wir intern eine Gruppe gegründet, in der Experten aus den Bereichen Kunststoffanwendungen und moderne Fertigung zusammenarbeiten. Während Erstere viel Materialwissen mitbringen, verfügen Letztere über umfangreiche Kenntnisse in der Überwachung von Füge- und Montageprozessen. Gemeinsam erkannte das Team das immense Potenzial der Erfassung und Analyse aussagekräftiger Daten im medizinischen Bereich. So ist Kistler exklusiver Anbieter des Prozessnavigators Stasa QC von Stasa geworden, mit dem das Prozessüberwachungssystem Prüfpläne effizient und automatisiert dokumentiert und entsprechende Prozessanalysen durchführt. Kürzlich haben wir auf der Fakuma auch unsere eigene Prozessdatenlösung AkvisIO IME (Injection Molding Edition) einem breiteren Publikum vorgestellt.
Sie haben die Qualitätsüberwachung und -sicherung angesprochen. Welche Besonderheiten gibt es hier in der MedTech-Branche?
Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sind in der Medizinbranche unerlässlich, da die Unternehmen hochsensible Produkte herstellen. Vorschriften wie die Good Manufacturing Practice (GMP) in den USA und die Medical Device Regulations (MDR) in Europa verlangen von den Unternehmen die Einhaltung strenger und immer umfangreicher werdender Standards. Nach dem Motto „Was nicht dokumentiert ist, existiert nicht“ muss der gesamte Produktionsprozess lückenlos dokumentiert werden. Diese Notwendigkeit einer lückenlosen Dokumentation setzt die Unternehmen unter großen Druck. Sie erhöht den Bedarf an integrierten Prozesslösungen, die alle relevanten Prozessparameter sowohl dokumentieren als auch optimieren. Das Prozessüberwachungssystem ComoNeo von Kistler beispielsweise misst den Innendruck präzise und vergleicht die resultierende Messkurve mit deren Zielverlauf. der Sollkennlinie. ComoNeoPREDICT nutzt künstliche Intelligenz, um anhand von Werkzeuginnendruck und Temperaturverläufen die Produktqualität vorherzusagen. Insgesamt sehe ich noch viel ungenutztes Potenzial für digitale Lösungen.
Wo setzen Medizintechnikunternehmen bereits digitale Lösungen ein?
Für den Spritzguss gibt es bereits Softwaremodule und Algorithmen, die eine automatische Anpassung der Prozessparameter ermöglichen, wenn die Messkurve von einer vorgegebenen Idealkurve abweicht. Ist beispielsweise der Werkzeuginnendruck, der von direkten, indirekten oder berührungslosen Sensoren gemessen wird, zu hoch oder zu niedrig, kann das System den Umschaltpunkt automatisch anpassen. Das Softwaremodul Multiflow von Kistler balanciert den Füllverlauf von Mehrkavitätswerkzeuge sehr effizient. Es analysiert die Füllzeitunterschiede zwischen den Kavitäten anhand des Werkzeuginnendrucks. Anschließend passt es die Düsentemperaturen Spitzentemperatur des Heißkanals automatisch an, um eine gleichmäßigere Füllung zu erreichen. Der Einsatz von Automatisierung wird angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels in den Unternehmen immer wichtiger.
Wo sehen Sie noch nicht genutztes Potenzial?
Algorithmusgestützte Systeme sind zwar bereits im Einsatz, aber es gibt zwei Bereiche, in denen wir ihre Akzeptanz verbessern und fördern können. Erstens: Wenn es darum geht, Unternehmen von einer bisher nicht erprobten Lösung zu überzeugen, ist es wichtig zu zeigen, dass automatisierte Systeme für die Fertigung einfach einzurichten und zu bedienen sind. Wir werden künftig noch enger mit unseren Kunden zusammenarbeiten, um aus ihren Erfahrungen zu lernen und unsere Produkte insgesamt zu verbessern, damit sie noch benutzerfreundlicher werden.
Zweitens ist Weiterbildung von entscheidender Bedeutung. Weiterbildungsangebote helfen Unternehmen nicht nur, die Vorteile einer digitalen Lösung für ihren spezifischen Anwendungsfall zu erkennen, sondern auch, die Mitarbeitenden auf verschiedenen Ebenen bei der Anwendung zu unterstützen. Aus diesem Grund haben wir die Kistler Plastics Academy ins Leben gerufen. Damit unterstützen wir die digitale Reise unserer Kunden auf drei Ebenen. Auf der Basisebene schulen wir Maschinenbediener, Anwendungstechniker und Werkzeugbauer in der Installation von Sensoren, im Umgang mit dem Prozessüberwachungssystem ComoNeo und der Datenbank. Auf der fortgeschrittenen Ebene lernen Prozessingenieure und Produktionsexperten, was wirklich im Inneren der Spritzgießform passiert. Auf der Expertenebene erhalten Datenmanager und Qualitätsingenieure einen Einblick in die Möglichkeiten des Datenmanagements und der Datenanalyse.
Künstliche Intelligenz ist derzeit in aller Munde – aber wie kann sie Spritzgießunternehmen im Produktionsalltag helfen?
Ein möglicher Einsatz von KI liegt sicherlich in der Analyse von Daten und darauf basierenden automatisierten Vorhersagen. Der Schlüssel dazu ist eine moderne Datenplattform wie AkvisIO von Kistler. Sie integriert Produktions- und Messgeräte wie Sensoren oder Spritzgiessmaschinen und sammelt deren Rohdaten. Anschließend bereitet sie diese auf und macht Daten aus unterschiedlichen Quellen vergleichbar. Algorithmen des maschinellen Lernens können diese Daten nutzen, um weitergehende Rückschlüsse auf die Leistung der gesamten Produktionsanlage zu ziehen, Wartungsbedarf und sogar Anomalien vorherzusagen. Unsere Vision ist, dass der Algorithmus eines Tages in der Lage sein wird, Ereignisse vorherzusagen, die noch nie aufgetreten sind. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen und auch die Anwender mit dieser neuen Art der Datennutzung vertraut zu machen, konzentriert sich unser großes Team von Datenwissenschaftlern bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung auf die Benutzerfreundlichkeit und das Benutzererlebnis. AkvisIO verarbeitet und analysiert Prozessdaten, um sie direkt als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. Dadurch entfällt der zusätzliche Schritt der Interpretation und die Daten werden leichter nutzbar. Natürlich kann der Nutzer auch seine eigene, erfahrungsgestützte Interpretation der Daten zu den Ergebnissen hinzufügen. Da sich der Bedarf an KI in der Industrie ständig weiterentwickelt, haben wir AkvisIO modular aufgebaut. Durch die Zusammenarbeit mit Kunden und die Ermittlung ihrer spezifischen Bedürfnisse können wir Funktionen oder spezifische Module hinzufügen, die auf eine bestimmte Anwendung oder Nutzergruppe zugeschnitten sind. Ein Anwendungsgebiet könnte die erweiterte Prozessregelung einschließlich Trends und Vorhersagen sein, die Prozesse insbesondere im Hinblick auf Energie- und Rohstoffverbrauch noch effizienter und robuster machen könnten.
Gibt es neben der Digitalisierung weitere relevante Themen, die die Messtechnik für Medizinprodukte aktuell beeinflussen?
In unseren Fokusbranchen sind derzeit die Kreislaufwirtschaft und insbesondere der Einsatz von Rezyklaten die drängendsten Themen. Letzteres spiegelt sich aus regulatorischen Gründen zwar noch nicht in der Medizintechnik wider, aber das könnte sich bald ändern, wenn wir eine Lösung anbieten können, die Prozessschwankungen zuverlässig und automatisch ausgleicht. Wenn Unternehmen beginnen, größere Anteile von Rezyklaten in ihren Produktionsprozessen zu verwenden, wird die Messtechnik noch wichtiger, auch wenn sie sich als solche nicht ändert. Rezyklathaltiges Granulat hat im geschmolzenen Zustand eine schwankende Viskosität, sodass Parameter, die Viskositätsänderungen anzeigen, wie z. B. der Werkzeuginnendruck, ständig überwacht werden müssen, um eine hohe Produktkonstanz zu gewährleisten. Auch hier könnte KI eingesetzt werden, um Anomalien zu erkennen und sogar vorherzusagen.