Prozesssichere Zerspanung im Mikrobereich als Herausforderung
Mit dieser Herausforderung sahen sich auch die Produktionsmitarbeiter bei Kistler in Winterthur konfrontiert. Beim Experten für Messtechnik werden unter anderem Spannhülsen und Membranen für besonders empfindliche Drucksensoren hergestellt. Aufgrund der äußerst kompakten Bauweise mit Wandstärken von gerade mal 0,06 mm wird eine Nickel-Eisen-Legierung verwendet. Sie hat im Vergleich zum Werkstoff gängiger Hülsen einen geringeren Wärmeausdehnungs-Koeffizienten und einen höheren Temperaturbereich. Der Werkstoff ist allerdings sehr schwer zu zerspanen. Er reagiert extrem empfindlich und verformt sich bei starken Berührungen sofort. Das führt zu häufigen Werkzeugbrüchen und zu Ausschuss in der Produktion. Zusätzlich sind die Werkzeugstandzeiten sehr kurz und variieren stark.
Informationen für automatisierte Bearbeitungsprozesse
Severin Hosmann, Gruppenleiter bei Kistler: „Die sehr stark variierenden Standzeiten waren für unsere Produktionsmitarbeitende sehr mühsam. Sie mussten jede einzelne Maschine permanent im Blick haben. Mal konnten sie mit einer Schneide 20 Spannhülsen abstechen, mal waren es 50 Stück. Das war sehr ineffizient und verlangte deshalb nach einem System, um diesen Prozess auf Dauer zu optimieren.“
Zunächst versuchte das Team den Zustand der Schneide durch eine Überwachung der Antriebsleistung des Hauptspindelmotors zu bewerten. Dieses Verfahren ist allerdings nur bei Werkstücken ab einem Bohrdurchmesser von 3 mm geeignet. Im Mikrobereich ist es aufgrund der zu großen Masse der Maschinenspindel und den Reibungsverlusten in der Spindel zu unergiebig, da diese als Störgrößen teilweise größere Signalanteile erzeugen als der Zerspanprozess an sich. Aufgrund der fehlenden Sensitivität ist eine solche Lösung entsprechend für eine Automatisierung nicht brauchbar.
Piezoelektrische Kraftmessung als Lösung
Zur Lösungsfindung wurde ein neuartiges Sensorkonzept auf Basis der piezoelektrischen Kraftmessung erarbeitet. Dabei wurden Drehwerkzeuge mit hochauflösenden SlimLine-Kraftsensoren aus dem eigenen Haus ergänzt. Diese eignen sich dank ihrer großen Steifigkeit speziell zum Messen von sich rasch ändernden Zug- und Druckkräften. Auch die Messkette, die Anbindung an die Maschinensteuerung sowie eine eigens für diese Anwendung programmierte Software wurden installiert. Die Metallbearbeitungsspezialisten führten eine umfangreiche Testreihe durch, um die Eignung des Sensorkonzepts zu belegen. Zu jedem Drehversuch wurden sämtliche Prüfmaße wie die Dicke der Werkstücke in einem Messprotokoll erfasst. Innerhalb kürzester Zeit realisierte das Team rund 1.500 Schnittversuche. Diese lieferten wichtige Erkenntnisse für Maßnahmen und das weitere Vorgehen.
Kraftsignal gibt Aufschluss über Verschleiß
Gunnar Keitzel, Head of Strategic Business Field Cutting Machining bei Kistler, war mit dem Ergebnis sehr zufrieden: „Die Versuchsreihe war ein voller Erfolg. Sie hat gezeigt, dass unser Sensorkonzept für die Messung von Kräften bei der Mikrozerspanung optimal geeignet ist. Bereits kleinste Veränderungen im Prozess konnten sichtbar gemacht werden.“ Durch die piezoelektrischen Kraftmessungen konnte aufgezeigt werden, dass der Zustand und die Geometrie des Werkzeugs das Kraftniveau im Bearbeitungsprozess signifikant beeinflussen. Mit zunehmendem Verschleiß kam es zu überproportional höheren Werkzeugbelastungen. Das verkürzte die Lebensdauer der Schneiden erheblich und führte zu plötzlich eintretenden Werkzeugbrüchen. In der Folge gab es zahlreiche Produktionsstillstände und ein erhöhtes Maß an Ausschuss.
Von der Prozessoptimierung bis zur Zustandsüberwachung
Mit Hilfe dieser Erkenntnisse wurden die Prozesse in der Bearbeitung angepasst. Unter anderem wurde das Schnittvolumen optimiert, um die auftretenden Kräfte zu minimieren. Gleichzeitig ermöglicht die direkte Anbindung an die Maschinensteuerung eine dynamische Anpassung des Werkzeugs entsprechend dem Zustand der Schneide. Das führt zu deutlich längeren Werkzeugstandzeiten und somit zu größerer Prozesssicherheit. Der Einsatz der SlimLine Kraftsensoren von Kistler ermöglicht eine kontinuierliche Werkzeugüberwachung. Sie messen selbst kleinste Kräfte während der Produktion. Anhand dieser Informationen erkennen Produktionsmitarbeitende, wenn eine Schneide ausgetauscht werden muss. Somit wird Ausschuss bereits vermieden, bevor er entsteht.
Verlässliche Daten zur Berechnung der physikalischen Grenzen
Severin Hosmann: „Messen heißt Wissen. Wissen heißt verstehen. Erst wenn wir die Vorgänge in der Maschine verstehen, können wir die Parameter analysieren und Rückschlüsse auf die Werkzeugperformance und die Qualitätssicherung ziehen. Bis dato mussten wir mit Herstellerangaben wie Vorschub, Drehzahl und Schnitttiefe arbeiten. Diese lassen jedoch viel Handlungsspielraum zu, so dass vieles auf Vermutungen basierte. Dank dem neuen System können wir nun mit Zahlen, Daten und Fakten arbeiten. Zukünftig werden Werkzeugparameter in Form von Schnittkraft ausgedrückt. In unserem Fall wurde dadurch der gesamte Prozess transparent. Das ermöglicht es uns, bereits im Voraus die physikalischen Grenzen zu errechnen.“
Konzept in der Praxis bewährt
Das System hat sich inzwischen in der Praxis bewährt und wird nun im Markt als Piezo Tool System eingeführt. Es eignet sich sowohl für die Prozessoptimierung oder die Zustandsüberwachung in der Großserienfertigung wie auch bei Einzelstücken. Gunnar Keitzel: „Die Kollegen in der Produktion suchten nach einer geeigneten Möglichkeit, ihre Bearbeitungsprozesse zu überwachen. Gleichzeitig benötigten wir eine Anwendung, mit der wir unsere Sensoren in der Praxis testen konnten. Somit ergab sich die Möglichkeit, das System direkt vor Ort in der eigenen Produktion zu testen. Die gute Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten war dabei entscheidend für den erfolgreichen Projektabschluss.“